Stellungnahme zur Verbreitung von falschen Gebärden in den Sozialen Medien vom 16. April 2023

Vor einigen Tagen haben Videobeiträge des Instagram-Kanals „gemeinsam_gebaerden“, in denen hörende Menschen falsche Gebärden zeigen, für Empörung innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft gesorgt. Neben der Instagram-Seite betreibt die Gemeinsam Gebärden GbR eine Homepage (www.gemeinsam-gebaerden.de), über die ein Buch mit 300 Gebärden sowie Fortbildungen beworben werden. Der Fall hat eine Debatte angestoßen und in den Sozialen Medien wurde zahlreiche Kritik geäußert. Als Bundesverband der Dozenten für Gebärdensprache schließen wir uns der Forderung an, die Verbreitung von falschen Gebärden zu stoppen und möchten in dieser Stellungnahme einige Kritikpunkte aufgreifen.

Die Idee und das Konzept von Gemeinsam Gebärden, Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen zu adressieren, die von einer visuellen Kommunikation mit Gebärden profitieren können, befürworten wir grundsätzlich.
Allerdings wird in einer Instagram-Story vom 15. April sowie auf der Homepage von Gemeinsam Gebärden behauptet, die in Buch und Fortbildungen vermittelten Gebärden seinen „vom Netzwerk Assistive Technologien/Unterstützte Kommunikation (UK) Münsterland 2013 zusammengestellt“ (IG: gemeinsam_gebaerden) und entstammten als Teil der Lautsprachunterstützenden Gebärden (LUG) nicht der Deutschen Gebärdensprache (DGS).

Diese Aussage möchten wir wie folgt kommentieren:
Das Gebärdenvokabular, welches sich LUG zunutze macht, kommt ursprünglich aus der DGS. Eine einheitliche DGS gibt es, anders als auf der Homepage behauptet, nicht, vielmehr werden in ganz Deutschland je nach Region unterschiedliche Dialekte verwendet. Wir fordern, dass die Verbreitung von Falschinformationen sowie von falschem Gebärdenvokabular gestoppt wird.

An dieser Stelle möchten wir auf einige Punkte aus dem Berufsbild der Dozent:innen für Gebärdensprache hinweisen. In den 90er-Jahren wurden Gebärdensprachkurse überwiegend von hörenden Menschen geleitet, die keine DGS, sondern LBG unterrichtet haben, welche als eine Art Hilfsmittel in der Kommunikation zwischen hörenden und Tauben Menschen diente. Im Zuge der Emanzipationsbewegung Tauber Menschen wandelte sich auch das Berufsbild der Gebärdensprachdozierenden. Im Rahmen der Professionalisierung wurde das Ziel formuliert, Dozierende und Lehrende als „Botschafter der Gehörlosengemeinschaft“. (https://www.bdg-gebaerdensprache.de/images/dozent/gsd_berufsbild_2004.pdf) anzusehen, die durch die Vermittlung von Sprache und Kultur Tauber Menschen „als ,Brückenpfeiler ́ die Brücke zwischen der Welt der Gehörlosen und der Welt der Hörenden“ (ebd.) schlagen. Zentrale Voraussetzung zur Ausübung einer Dozierendentätigkeit sind sowohl eine hohe Gebärdensprachkompetenz als auch Wissen über die Kultur Tauber Menschen.

Wir kritisieren, dass das Team von Gemeinsam Gebärden Gebärdenkurse anbietet, ohne eine Dozierendenausbildung abgeschlossen zu haben.

Auch ist es problematisch, dass die Gebärden, die in DGS-Kursen oder anderen Formaten erlernt wurden, nun in den Sozialen Medien verbreitet werden und somit Aufmerksamkeit, Reichweite und Anerkennung generiert werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass das Team von Gemeinsam Gebärden das eigene Hearing Privilege reflektiert.

Dozierende für Deutsche Gebärdensprache durchlaufen eine lange Ausbildung und haben es dennoch oft schwer, eine Anstellung als Dozierende:r zu finden. Das Team von Gemeinsam Gebärden hingegen profitiert beruflich von den erlernten Gebärden und hat Erfolg mit ihren Angeboten.

In diesen Zusammenhang verweisen wir am Ende der Stellungnahme auf Beiträge von Asha Rajashekhar und Viviane Grünberger, in denen die Thematik Hearing Privileges aufgearbeitet wird, sowie auf das oben zitierte Berufsbild, welches der Bundesverband herausgegeben hat.

Zum geschichtlichen Hintergrund ist anzufügen, dass die Gebärdensprache in Folge der Beschlüsse des Mailänder Kongresses im Jahr 1880 aus der Erziehung und Bildung Tauber Menschen verbannt wurde. Stattdessen wurde die oralistische Methode (reiner Fokus auf Lautsprache) durchgesetzt. Erst im Jahr 2010 wurde diese Entscheidung bei der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) endlich korrigiert. In diesem Zusammenhang wurde der Beschluss von 1880 als Fehler deklariert, welcher Taube Menschen in Bildungsprogrammen bis heute benachteiligt. Zudem wurde eine Entschuldigung für die fatalen Folgen des Verbots der Gebärdensprache ausgesprochen.

Wir befinden uns auch dreizehn Jahre nach der Entschuldigung in einem Prozess der Aufarbeitung dieser Folgen, vor deren Hintergrund wir den erneuten Verstoß hörender Menschen gegen die Rechte Tauber Menschen besonders kritisch betrachten.
Auch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert wurde, hebt die Relevanz der Förderung der Gebärdensprache sowie der sprachlichen Identität Tauber Menschen hervor.

Zusammenfassend hoffen wir, durch unsere Stellungnahme und die Aufbereitung der Hintergründe und Informationen Denkanstöße zu liefern und aufzeigen zu können, wie privilegiert die Zugänge des Teams von Gemeinsam Gebärden gegenüber den Zugängen vieler Tauber Menschen sind. In diesem Zusammenhang möchten wir auch zu einer kritischen Reflexion darüber anregen, wer in Gebärdenlehrvideos in den Sozialen Medien auftritt und damit als sprachliches Vorbild dient. Wir wünschen uns eine Zusammenarbeit mit Tauben Gebärdensprachdozierenden und hoffen, gemeinsam einen klärenden und lösungsorientierten Ansatz zu entwickeln.

Dawei Ni (Vorsitzender); Alexander Straub (stellv. Vorsitzender)

 

Beiträge zum Thema „Hearing Privileges“

Asha Rajashekhar: Die Taubengemeinschaft zu Zeiten des Postkolonialismus (und von „Hearing Privileges“?). In: Das Zeichen 25/88, 2011, 290–299. https://www.yumpu.com/de/document/read/58511307/asha-rajashekhar

Viviane Grünberger: Verstrickungen von Audismus und hearing privileges in der Diskussion um „kulturelle Aneignung“ von Gebärdensprache – eine kritische Diskursanalyse. In: Das Zeichen 115, 2020, 234–253.https://www.academia.edu/46939167/Verstrickungen_von_Audismus_und_hearing_privileges _in_der_Diskussion_um_kulturelle_Aneignung_von_Geb%C3%A4rdensprache_eine_kritisch e_Diskursanalyse

Bundesverband der Dozenten für Gebärdensprache e.V.: Berufsbild „Gebärdensprachdozent/- lehrer “. Endfassung 2004https://www.bdg-gebaerdensprache.de/images/dozent/gsd_berufsbild_2004.pdf